Dagmar Burkhart

Leseprobe I

Hautgedächtniszeichen in Kunst und künstlerischer Fotografie

(...) Nach einer Ära der Abstraktion und Entmaterialisierung in der Kunst des vorigen Jahrhunderts folgte eine Tendenz zur phänomenologischen Rematerialisierung. So verwendet die Neoavantgarde seit der sexuellen Revolution radikal den eigenen Körper als Ausdrucksmittel. Die medialen Aktionskünstler VALIE EXPORT (mit bürgerlichem Namen Waltraud Höllinger, geb. Lehner, Wien), Vito Acconi, Dennis Oppenheim (beide USA), Marina Abramović (Belgrad) und andere unterzogen sich seit den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert ähnlich grenzwertigen Erfahrungen am Körper, an der Haut, indem sie den Schmerz der Selbstversehrung als künstlerisches Mittel einsetzten: Tattoo, Bisse, Verbrennung, Vereisung, Ritzung, Peitschung etc. Dass in der Haut ihr Gedächtnis als belastbare, strapazierfähige biologische Hülle, aber auch als äußerst verletzbare, leidensfähige Grenze des Selbst zur Außenwelt gespeichert ist, zeigen u.a. die extremen Arbeiten des Australiers Stelarc (Stelios Arcadious, *1946), beispielsweise Event for Lateral Suspension (Event für eine seitliche Aufhängung, 1978). Zum ersten Mal fand die Aktion der Aufhängung an der eigenen Haut 1976 in Tokio statt. Dem Künstler waren paarweise Fleischerhaken durch die Haut an den Schlüsselbeinen, an der Brust, am Bauch und an den Oberschenkeln gezogen worden, und sein Körper wurde durch Seile und Rollen hochgehievt, so dass er aufgehängt frei im Raum schwebte. 25 Mal hat Stelarc in der Folgezeit Aufhängungen performiert. Nach seiner Auffassung wird die Haut samt ihrem Gedächtnis künftig nicht mehr Mittlerin sein zwischen Innen und Außen des Menschen, zwischen dem Selbst und der Welt, sondern durch die zunehmend eindringende Technologie als Teil eines postbiologischen Körpers funktionieren. Statt der "weichen empfindlichen Oberfläche eines Ortes" an der Grenze "des Innen und des Außen", also der Hülle des menschlichen Körpers, kann sich Stelarc eine synthetische Haut vorstellen, die Sauerstoff direkt durch ihre Poren aufzunehmen und Licht auf effiziente Weise in chemische Nährstoffe umzuwandeln imstande ist (1996 in Kunstforum international). 1993 zitierte der französische Kulturphilosoph Paul Virilio in seinem Essay Die Eroberung des Körpers eine Äußerung Stelarcs zur utopischen Überwindung der Haut: "Was würde beispielsweise geschehen, wenn man mit einer neuen Haut ausgestattet werden könnte, die sowohl in der Lage wäre zu atmen, als auch die Photosynthese durchzuführen, das heißt, die Sonnenstrahlen in Nahrung umzuwandeln? Wären wir mit einer solchen Haut ausgestattet, benötigten wir keinen Mund mehr, um zu kauen, keine Speiseröhre mehr, um zu schlucken, keinen Magen mehr, um zu verdauen, und keine Lungen mehr, um zu atmen" (S. 123). Ausgelöscht wäre in dieser Horrorvision einer gedächtnislosen künstlichen Haut das ganze menschliche Haut-Sensorium, das die conditio humana so entscheidend prägt: der neue Mensch als unsterblicher, nicht länger (mit)leidensfähiger Roboter. Der Mensch auf dem Weg zum Cyborg?

 

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Leseprobe II

Theater und Film als Hautgedächtnis-Medien

(...) Die Abgründigkeit der Haut in ihrer Dialektik von Makellosigkeit und Zerstörung, von Jugendlichkeit und Alterung, ist ein Faszinosum auch für Dramatiker, Opernkomponisten und Filmemacher. In dem Paragone der Künste stellt sich häufig das Bühnenstück oder der Film im Vergleich zum erzählenden Text als das geeignetere Medium für die Genese eines Hautgedächtnisses heraus, weil Geschehen, etwa die Entstehung einer Narbe oder Tätowierung bzw. das Entblößen einer Hautversehrung, durch bewegte Bilder wirkungsvoller visualisiert werden kann. Einschreibungen in das Gedächtnis der Haut offenbaren einen phänomenologischen und funktionalen Facettenreichtum, der seine Schwerpunkte in drei Bereichen hat:

I Identität und Kennzeichnung

II Hautschönheit und ihre Verfallsgeschichte

III Grenzgängertum zwischen Natürlichem und ästhetisch Gestaltetem, zwischen Monströsem und Menschlichem, zwischen Lebendigem und Totem

Zur Sphäre I gehören eine Reihe von Dramen und Filmen, in denen eine Figur durch ein besonderes Hautmerkmal gekennzeichnet ist, das ihre Identität konstituiert. Die Ursprünge finden sich in Mythen von der Verletzlichkeit der sterblichen Menschen und der Unverwundbarkeit (und damit Unsterblichkeit) der Götter. Das dramatische Potential des Stoffes erwächst aus dem "In-Between", aus der Figur des fast unverwundbaren Helden, dem Arkanum seiner verwundbaren Stelle und dem Geheimnisverrat. Mythische Narrative wie das von Samson, dessen Lebenskraft allein in seinen Haaren lag, oder von Achilles, der nur an der Ferse verwundbar war, sind immer wieder neu ausgelegt worden. Zu den heroischen Gestalten mit einer Hautgedächtnis-Lücke, mit einer "offnen Tür" (so bei Hebbel, Die Nibelungen 2003, S. 11), durch die der Tod eintreten kann, gehört auch Siegfried, der "Held des Nordens", wie er in Friedrich de la Motte Fouqués Tragödie Sigurd, der Schlangentödter (1808) im Obertitel genannt wird.

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In der Sphäre II geht es um ästhetische Fragen sowie die Metaphysik der Oberfläche und - wie Nietzsche gesagt hat - ihre "Hautlichkeit" (Die fröhliche Wissenschaft, 1882, S. 256). Vor allem das Phantasma des in seiner glatten Hautschönheit mit Marmor, Porzellan, Blumen (Lilie) und Früchten (Pfirsich, Apfel) assoziierten weiblichen Gesichts ist dazu bestimmt, dem Verfall zu erliegen und aus der Irrealität in Realität überführt zu werden. Folglich dreht sich in Musiktheater- und Filmwerken, die jenes Hautgedächtnis-Motiv thematisieren, das Geschehen um die feminin-vollkommene Gesichtshaut in ihrem ursprünglichen, und ihrem späterem, ereignishaft zerstörten Zustand.

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Der Bereich III umfasst Filme und Musiktheaterstücke, die das Grenzgängerische des Hautgedächtnisses thematisieren. Die menschliche Haut ist Gewebe und gleichzeitig empfindlichster Seismograph der Psyche. Deshalb kann das Hautgedächtnis Grauen und Lust genau so speichern wie ästhetische Reize. Den erotischen Touch nackter und dann mit Bildern "bekleideter" Hautoberfläche nutzen etwa Filme, in denen das schmerzhaft-lustvolle Einstechen farbiger Tattoos auf glatten, hellen Frauenrücken zelebriert wird. 1966 demonstrierte der Film Irezumi (Die Tätowierung) des japanischen Regisseurs Yasuzo Masumura die signifikante Rolle von Tattoos im Erotikdrama.

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