Dagmar Burkhart: Der Mensch im Futteral / Kulturphänomen Haut / The cultural phenomenon of SKIN / Bunins Novelle "Volki" / Körper - Gedächtnis - Text / Archäologie des Narbenmotivs / Concepts of the SKIN in Varlam Shalamov's "Kolyma Tales" and Imre Kertész' Novel "Fateless" / Vladimir Sorokin's play "Capital" and the mythologizing of money

 

 

Volker Steinkraus: Haut und Architektur

 

 

Dagmar Burkhart

Der Mensch im Futteral

Haut und Hülle - Umschlag und Verpackung. Hg. Ute Seiderer, Michael Fisch, Berlin 2014, 224-240

Film-Häute

(...) Kunstvolle Visualisierung von Begehren nach einer anderen Identität, nach der Utopie des In-eine-andere-Haut-Schlüpfens bilden Filme wie etwa der nach Thomas Harris’ Roman von 1988 gedrehten Streifen The Silence of the Lambs (1991, Das Schweigen der Lämmer; Regie: Jonathan Demme), der das Horrorfilm-Genre revolutioniert hat. Hier löscht der Serienmörder Jame Gumb, genannt Billy, menschliches Hautgedächtnis dadurch aus, dass er sich aus der abgezogenen Haut seiner weiblichen Opfer Kleidungsstücke schneidert, weil er sich als Transsexueller mit Hilfe ihrer Haut eine weibliche Identität schaffen will. Dadurch dass er sie, wie auch der Filmtitel andeutet, auf den Status von Opferlämmern reduziert, enthumanisiert er ihre Haut und deren Gedächtnis, in welches das Merkmal Mensch-Sein eingespeichert ist. In der Mitte des Film eignet sich auch der inhaftierte Psychiater und Serienmörder »Hannibal the Cannibal« eine fremde Identität an: Nachdem er einen Wachmann gekreuzigt und ausgeweidet hat, zieht er sich dessen abgetrennte Gesichtshaut über, um, als Schwerverletzter getarnt, aus dem Gefängnis in die Freiheit zu gelangen. An diesen mit mythologischen und christlichen Schlüsselbildern angereicherten Film anknüpfend, wird die Frage der Identität in Pedro Almodóvars La piel que habito/The Skin I Live In (2011) betitelter Film-Adaptation des Thrillers Mygale (Vogelspinne, 1984; deutsch Die Haut, in der ich wohne, 2008) von Thierry Jonquet noch radikaler behandelt. Im Mittelpunkt des von Almodóvar vielfältig abgewandelten Plots steht ein an der Entwicklung einer neuartigen Haut arbeitender Schönheitschirurg, dessen Frau Gal durch Verbrennungen infolge eines Autounfalls verunstaltet wurde und Selbstmord begeht, als sie ihr Gesicht in einem Spiegel sieht; ferner dessen Tochter, die von einem jungen Mann vergewaltigt und in den Wahnsinn getrieben wurde. Um seinen Rachedurst zu befriedigen, kidnappt der Arzt den Vergewaltiger und erniedrigt ihn durch Einzelhaft in Nacktheit, Hunger und Durst. Schließlich raubt er ihm seine Geschlechtsidentität, indem er ihn nach einer Reihe von transgenetischen Haut-Operationen zwingt, mit dem Körper einer Frau weiterzuleben, sich zu prostituieren und Objekt der voyeuristischen Beobachtung seines Schöpfers zu sein. Der Film greift nicht nur demiurgische Mythen (Pygmalion und Galatea, Prometheus) und Trivialmythen (Frankenstein) auf, sondern ihm geht es auch um ästhetische Fragen und die Metaphysik der Oberfläche – vor allem das Phantasma der vollkommenen Haut und des weiblichen Körpers und Gesichts. Deshalb alludiert Almodóvar auf Filmwerke, in denen die vollkommene Gesichtshaut in ihrem ursprünglichen, und ihrem späterem, ereignishaft zerstörten Zustand thematisiert wird. Ein Paradebeispiel dafür liefert 1938 das schwedische Film-Melodram En kvinnas ansikte (Das Gesicht einer Frau, Regie: Gustaf Molander) mit der damals 23−jährigen Ingrid Bergman in der Hauptrolle, dann die amerikanische Version des Stoffes A Womans’s Face (Die Frau mit der Narbe) von 1941 (Regie: George Cukor) mit Joan Crawford als Anna Holm. Hier wird das Publikum nicht abrupt mit dem weiblichen Narbengesicht konfrontiert, sondern sieht beim ersten Auftreten Anna Holms zunächst nur die bestürzte Reaktion in den Blicken der Anderen. (...)

Kulturphänomen HAUT

HAUT - KÜNSTLERISCHE FOTOGRAFIE (2008), 7-15

Textem-Verlag Hamburg 2008

Aus archaischer Zeit sind konzentrische Welt- und Kulturmodelle überliefert, welche die Stellung des Menschen in der Welt erklären sollten. Hier begrenzt die Haut den als innersten Kreis verstandenen Körper nach außen. Das Geheimwissen über die Entstehung und Zusammensetzung der Welt wurde als Frage-Antwort-Ritual in Form von Rätseln tradiert. In ihrer Bildersprache bedeutete der menschliche Körper den Mikrokosmos und das Weltall den Makrokosmos. Das Haus wird dabei als Mesokosmos verstanden. Es ist also Bindeglied zwischen näherer und fernerer Umgebung des Menschen. Rätsel und Rätselrituale sind auf mythische Konzepte zurückzuführen, welche die Entstehung der Welt als Zergliederung eines mythischen Helden und der daraus geschaffenen Teile des Kosmos begreifen. Derartige Mythen lassen sich im gesamten indoeuropäischen Bereich finden: beispielsweise in Hymnen des altindischen Rigveda, dem heiligen Wissen der Brahmanen, oder in der altisländischen Edda, einer Sammlung von Spruchdichtung, Götter- und Heldenliedern. Der Kern des Textmaterials basiert auf der Idee einer Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos, einer Gleichgestaltigkeit von Weltall und Körper. Diese Erkenntnisse drückten sich in Analogien aus:

Erde – Fleisch;
Wasser – Blut;
Tau – Schweiß;
Pflanzen – Haut, Haare;
Gestein – Knochen;
Sonne, Feuer – Augen;
Wind – Atem;
Wolken – Gedanken;
Himmel – Kopf, Schädel.

In einem nicht-kanonischen Text des Alten Testaments, dem Buch der Geheimnisse Enochs, wurden diese kosmogonischen Vorstellungen unter dem Einfluss der christlichen Religion uminterpretiert. Ausgangpunkt ist nun der Mensch und seine Entstehung: So heißt es in den Fragen zur Erschaffung Adams: „Am sechsten Tag befahl ich meiner Weisheit, den Menschen zu machen aus sieben Bestandteilen: erstens sein Fleisch von der Erde, zweitens sein Blut vom Tau, drittens seine Augen von der Sonne, viertens seine Knochen von Stein, fünftens seinen Verstand von der Schnelligkeit der Engel und von der Wolke, sechstens seine Adern und Haare [als Anhanggebilde der Haut verstanden] von dem Gras der Erde, siebentens seine Seele von meinem Geiste und dem Winde“.

Körper als Materie und Qualität

In dem seit der Antike geläufigen Dualismus Körper/Geist (soma, corpus/pneuma, spiritus), ist die Haut dem Körper zuzurechnen. Ein frühes Zeugnis findet sich bei Homer: die Bein-Narbe des heimgekehrten Odysseus als körperliches Identifikationsmerkmal. In der griechischen und der daraus abgeleiteten römischen Philosophie versteht man unter Körper eine dreidimensionale, sichtbare Materie: nach Platon etwas, „woran man sich stoßen und was man betasten“ kann. Es gibt aber „auch etwas, das keinen Körper“ hat, nämlich „unkörperliche Ideen“. Diese Unterscheidung bleibt in der Folgezeit bestehen. Seit Aristoteles hängt sie mit der Frage zusammen, wie sich der Körper zu den Grundprinzipien Form und Materie verhalte. Die aristotelische Auffassung ist die, dass jeder Körper aus Materie und Beschaffenheit besteht. Von der spezielleren Bedeutung, Leib des Menschen zu sein, überträgt Platon den Begriff des Körpers auf den Kosmos, der analog als lebendig, beseelt und vernünftig bezeichnet wird. Ähnlich vergleicht er den (kranken) Körper mit dem (kranken) Staat. Dem griechischen Bild vom beseelten Kosmos tritt später die christliche Auffassung von der Gemeinde als dem Leib Christi gegenüber. Im Mittelalter werden die antiken Bestimmungen des Körpers aufgenommen. Dies geschieht zunächst in Anlehnung an Platons Timaios, einer Schrift über die Natur der Welt, der Elemente und des menschlichen Körpers. Später erfolgte die Übernahme der aristotelischen Lehre von Materie und Form. Seit Beginn der Neuzeit wird die Frage nach dem Körper als einem Gegenstand der Naturlehre mehr und mehr von Einzelwissenschaften übernommen. Das Verhältnis von Körper und Geist, Leib und Seele, Natur und Ideen- bzw. moralischer Welt (Kant) aber bleibt weiterhin Thema der Philosophie. Erst seit dem 19. Jh. wird ihr dies von der Psychologie streitig gemacht.

Erkenntnistheoretisch besteht die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen physischem Organismus und wahrgenommenem Körper. Auf die Haut bezogen, muss zwischen drei Aspekten differenziert werden: dem funktionalen Bezugssystem des Körpers, einem Haut-Bild und aktuellen Körper- bzw. Hautwahrnehmungen.

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Dagmar Burkhart

The cultural phenomenon of SKIN

Translation: Angela Weckler

HAUT - KÜNSTLERISCHE FOTOGRAFIE (2008), 7-15

Textem-Verlag Hamburg 2008

Concentric models of the universe are known to have existed in ancient times and cultures to explain mankind’s place in the world. The skin defines the border between the body, or innermost circle, and the outside world. A ritualized question and answer tradition, expressed in the form of riddles, ensured that occult knowledge of the origins and composition of the world was passed to the next generation. Their pictorial language interprets the human body as the microcosm and the universe as the macrocosm. A house is between the two - a mesocosm. In other words, the link between a person’s immediate and more distant surroundings. Riddles and riddle rituals are based on mythical concepts whereby the world is created by the dismemberment of a mythical hero from whose parts the cosmos is fashioned. Myths of this kind occur throughout the Indo-European world: for example in the hymns of ancient India’s Rigveda, the sacred knowledge of the Brahmins, or the ancient Icelandic Edda, a collection of sayings and songs of the gods and heroes. The core idea on which the extant texts are based is a correspondence between macrocosm and microcosm, the concept that universe and body are designed to the same pattern. These ideas are expressed as analogies:

Earth – flesh;
Water – blood;
Dew – sweat;
Flora – skin, hair;
Rock – bones;
Sun, fire – eyes;
Wind – breath;
Clouds – thoughts;
Sky – head, skull.

These cosmogonic ideas are re-interpreted in the light of the Christian religion in The Book of Enoch, a non-canonical Old Testament book. The starting point is now mankind and how he was created: the section Questions on the creation of Adam records, “On the sixth day I commanded my wisdom to make man from seven elements: first, to make his flesh from earth, secondly his blood from dew, thirdly his eyes from the sun, fourthly his bones from rocks, fifthly his mind from the speed of the angels and the clouds, sixthly his arteries and hair [understood as adjuncts to the skin] from the grass of the earth, seventhly his soul from my spirit and the wind.”

The body in its material and qualitative dimensions

The skin belongs to the body in the dualistic view of body and soul common since ancient times (soma, corpus / pneuma, spiritus). An early example is to be found in Homer: a scar on his leg serves as a physical mark that identifies Odysseus on his home-coming. To Greek philosophers, and to the Romans, who derived their philosophy from Greek works, the body was three-dimensional, visible and material: according to Plato, something “which one can push against and feel.” But there are “also things with no body,” namely “incorporeal ideas.”  This distinction persists thereafter. Since Aristotle it has been connected with the question of the relationship between the body and the basic principles of form and matter. The Aristotelian view is that all bodies consist of matter and form. Taking the more specific meaning of body as the human body, Plato applies the concept of body to the cosmos, which is likewise deemed to be a living entity endowed with a soul and reason. Similarly, he compares the (sick) body to the (sick) state. The Greek concept that the cosmos has a living soul is later set against the Christian concept of the faithful as the body of Christ. In the Middle Ages the Classical definitions of the body are adopted. Initially they are based upon Plato’s Timaios, a treatise on the nature of the world, the elements and the human body. Aristotelian teachings on form and matter were added later. Since the dawn of modern times the body, as an object of elementary scientific study, has increasingly attracted the attention of individual disciplines. But the relationship between body, mind and soul, between Nature and the world of ideas or morals (Kant) remains a subject for philosophers. Not until the 19th century does psychology begin to stake its claim.

There is an epistemological necessity to distinguish between the physical organism and the perceived body. In relation to the skin, three different aspects are to be kept separate: the body’s functional frame of reference, the appearance of the skin and current perceptions of body and skin.

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Dagmar Burkhart

Causerie über Bunins Novelle „Volki“

Wiener Slawistischer Almanach 55 (2005), 229-239

(...)

Laut Michail Bachtin ereignen sich die "Akte des Körperdramas" (Bachtin 1965, 344) an der Grenze zwischen Körper und Welt. Und hier – auf der Körperoberfläche als "Bühne" dieses Dramas – ist auch das Phänomen der Narbe angesiedelt, von dem hier die Rede sein soll. Lange Zeit gerierte sich die Ästhetik ratlos vor dem menschlichen Körper als Feld gewaltsamer Eingriffe, Versehrungen und Verstümmelungen. Die "Laokoon-Debatte" (Lessing 1766) über das Problem der adäquaten Darstellung von Schmerz in den einzelnen Künsten legt Zeugnis davon ab. Zwar hatte bereits Mitte des 19. Jahrhunderts der Hegel-Schüler Karl Rosenkranz eine Ästhetik des Häßlichen entwickelt "Aber eigentlich zu Hause schien die aus Angst und gebanntem Blick gemischte Faszination, die merkwürdige Neugier für den versehrten Körper unterhalb der europäischen Hochkultur zu sein: Auf Jahrmärkten oder in der schwarzen Romantik, auch in der Pornographie" (Jäger 2002, 32). Eine kulturhistorische Standortbestimmung der Revisionen des klassizistischen Schönheitsideal hat Irmela Marei Krüger-Fürhoff geleistet (Krüger-Fürhoff 2001). Als wulstige Hautausbuchtung oder kraterförmige Eindellung läßt sich die Narbe in die Karnevalsphänomene einordnen, zu denen in erster Linie der groteske Körper mit seinen konvexen und konkaven Ausformungen zählt. Nicht der physische, psychologische, soziale oder ethnologische Aspekt des Phänomens Narbe steht allerdings hier zur Diskussion, sondern Narbe als Zeichen und Motiv, wie es sich in literarischen Diskursen darbietet. Da jede Narbe die Folge einer verheilten Wunde ist und sich auf dem Körper als "Hautinschrift" zeigt, bieten sich zwei theoretische Modelle an, sie zu analysieren: erstens ein diegetisches, d.h. handlungs- und ereignisorientiertes Modell (Lotman 1970, 329; Danto 1965, 236), und zweitens ein zeichenorientierter Zugang (vgl. Morris 1970). Beide Ansätze – sowohl der ereignisorientierte, wie auch der semiotische - sind durch das Prinzip der Indexikalität verbunden, das laut Thomas Sebeok entweder prognostizierend (Wo Regenwolken, da später Regen) oder rückschließend (Wo Asche, da vorher Feuer) sein kann (Sebeok 2000, 102). Das Kontext-Phänomen Narbe beruht demnach im Fall des ereignisorientierten Modells auf einem prospektiven, prognostischen Index (Wund-Heilung und Narbenbildung als Normalverlauf einer Verletzung oder Krankheit), und im Fall des semiotischen Modells auf einem retrospektiven Index (Narbe verweist zurück auf eine Verletzung und Wunde und ist auf diese Weise als somatisches Zeichen kommunizierbar). Die wichtigsten Funktionen des Narben-Motivs in literarischen Texten sind im Rahmen der Figurencharakterisierung und der Handlungs- bzw. Konfliktstruktur gegeben. Außerdem kann das Motiv zur Formierung eines ontologischen oder ethischen Wertehorizonts beitragen. Es wird metaphorisch gebraucht, steht im Dienst einer grotesken oder satirischen Schreibweise, und es kann mnemopoetisch bzw. metapoetisch fungibel gemacht werden. Das hier gewählte Textbeispiel, nämlich Ivan Bunins Novelle "Volki" (Wölfe) von 1940, dient sowohl zur Illustrierung des Ereignis- und Semiose- Modells wie auch mnemo- und metapoetischer Dimensionen: In der Dunkelheit einer heißen August-Nacht, die durch ständiges Wetterleuchten aufgehellt wird, fahren ein Fräulein und ein Gymnasiast, kutschiert von einem Bauernburschen, durch die Gegend. Das Fräulein entzündet unter den Küssen und Umarmungen des Gymnasiasten ein Streichholz nach dem andern und wirft sie ins Dunkle – eine Realisierung der Phrasem- Metapher "mit dem Feuer spielen" ("igrat' s ognëm") -, wobei sie lachend ruft: "Ich fürcht' mich vor Wölfen!" ("Volkov bojus'!") Am Abend vorher hatte nämlich ein Wolf im Dorf ein Schaf gerissen. Der Gymnasiast will seine Streichhölzer retten, und seine junge Geliebte gibt ihm mit einem Kuß nach. Ein erneutes Wetterleuchten, und der Kutscher bringt die Pferde abrupt zum Stehen. "Wölfe!" schreit er. Nach dieser Exposition und Narration der Vorgeschichte folgt ein Dreierschritt, in dem erstens das Ereignis, das zu der Verwundung des Fräuleins durch ein Eisenteil und zur Narbenbildung in ihrem Gesicht führte, erzählt wird: Drei große Wölfe mit grün-rot leuchtenden Augen stehen drohend vor einem schwarzen Wäldchen, am Horizont ein brennendes Gehöft, die Pferde scheuen und gehen durch, der Kutscher wird nach hinten geschleudert und die Kutsche rüttelt krachend über die Ackerfurchen. Und dann:

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Dagmar Burkhart

Die Triade Körper-Gedächtnis-Text in der russischen Literatur. Eine Archäologie des Narben-Motivs

Festschrift für Ingeborg Ohnheiser und Christine Engel zum 60. Geburtstag. Hg. Eva Binder et al., Innsbruck 2006, S. 203-222.

Die Haut ist das Gedächtnis des Körpers. "Was am tiefsten im Menschen liegt", hat Paul Valéry gesagt, "das ist die Haut". Das "Mark, das Gehirn, alles, was man zum Fühlen, Leiden, Denken" und zum "In-die-Tiefe-Gehen braucht, sind Erfindungen der Haut!" (Valéry 1960: 215-216). Der Mensch, wie er hier nach modernen neurophysiologischen Erkenntnissen entworfen wird (selbst das Gehirn ist eine Rinde!), stellt also ein Wesen dar, dessen Bathysphäre sich paradoxerweise dermal definiert. Laut Michail Bachtin ereignen sich die "Akte des Körperdramas" ("akty telesnoj dramy") wie Essen, Trinken, Verdauung und Ausscheidung, Beischlaf, Geburt, Krankheit, Tod und Verwesung an der Grenze zwischen Körper und Welt (Bachtin 1965: 344). Und hier – auf der Körperoberfläche als "Bühne" dieses Dramas – ist auch das Phänomen der Narbe als zeichenhaft-textueller Ausdruck des Körpergedächtnisses angesiedelt. - Vgl. auch meinen um Beispiele aus der deutschen (Schiller, Perutz, Grass etc.) und russischen Literatur (Dostoevskij, Nekrasov, Čechov, Achmatova, Bunin etc.) ergänzten Aufsatz, der sich unter dem Titel Narbe. Archäologie eines literarischen Motivs in der Zeitschrift Arcadia Bd. 40, H. 1 (2005), 1-31, findet.

Lange Zeit gerierte sich die Ästhetik, die "Lehre von Schönen", ratlos vor dem menschlichen Körper als Feld gewaltsamer Eingriffe, Versehrungen und Verstümmelungen. Die "Laokoon-Debatte" über das Problem der adäquaten Darstellung von Schmerz in den einzelnen Künsten legt Zeugnis davon ab. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte Karl Rosenkranz eine Ästhetik des Häßlichen entwickelt und sein Lehrer Hegel war ihm in der Gegenüberstellung des klassischen und des christlichen – Leid und Wunden Christi und der Märtyrer einbeziehenden – Schönheitsbegriffs vorangegangen. "Aber eigentlich zu Hause schien die aus Angst und gebanntem Blick gemischte Faszination, die merkwürdige Neugier für den versehrten Körper unterhalb der europäischen Hochkultur zu sein: Auf Jahrmärkten oder in der schwarzen Romantik, auch in der Pornographie" (Jäger 2002: 32). Die Narbe als wulstige Hautausbuchtung oder kraterförmige Eindellung läßt sich somit durchaus in den Rahmen einer Ästhetik des Hässlichen und in die von Michail Bachtin beschriebenen, zum Monströsen tendierenden Karnevalsphänomene einordnen, zu denen in erster Linie der groteske Körper mit seinen konvexen (Nase, Bauch, Phallus, Gesäß) und konkaven (Mund, Anus) Ausformungen zählt.

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Dagmar Burkhart

Narbe. Archäologie eines literarischen Motivs

Arcadia Bd. 40, H. 1 (2005), 1-31

Leseprobe:

(...) Der semiotische Ansatz ermöglicht die Erforschung der Narbe als Zeichenbildung. Narben sind Zeichen auf der Haut, die zur Entzifferung und damit zur Kommunikation einladen. Die Narbe ist immer ein indexikalisches Zeichen (im Sinne von Charles Morris), das gemäß der logischen Denkfigur der Implikation funktioniert: Wenn eine Narbe, dann Verweis auf eine vorgängige Wunde; wo eine Wunde, da eine Krankheit oder Verletzung. Die Narbe kann aber auch, wenn sie beispielsweise auf Grund einer Tätowierung oder Brandmarkung entstanden ist, ein ikonisches Zeichen sein (Figuren-Tattoo, Abb. 2 ; figürliche Staatswappen – z.B. der Adler – bzw. ein Rad oder das Galgen-Zeichen Г als Brandstempel ). Oder sie wird als symbolisches Zeichen ausgestellt (KZ-Nummern , Abb. 5; Brandstempel in Form von Buchstaben, z. B. "KAT" für russisch "katorga", Straflager, oder – im Falle von Sklaven – die Initialen des Besitzers , Abb. 6). Da sie nicht nur von dem Narben-Träger (N-patiens), sondern auch von einem außenstehenden Betrachter (N-recipiens) als Hautinschrift "gelesen", getastet und (in der Regel polysemisch) gedeutet werden kann, stellt sie ein komplexes Kommunikationsangebot dar, in dem die Erinnerung an das vergangene, zu der Narbe führende Ereignis und den Narben-Verursacher (N-agens) immer wieder aktiviert wird. Dabei besteht die Möglichkeit, daß es sich – z. B. im Falle der Selbstverstümmelung – um eine Konvergenz der drei Narben-Instanzen handelt. Im Normalfall jedoch sind die drei N-Instanzen auf drei (oder mehr) Personen verteilt bzw. sie beschränken sich auf zwei, wenn der N-Träger gleichzeitig als N-Rezipient fungiert. N-Verursacher kann eine Person oder eine quasi anonyme Macht, z.B. eine (von Gott oder einem numinosen Wesen als Strafe geschickte) Krankheit (Pocken etc.) sein. Neben der Tatsache, dass Narben als Gegenstand der nonverbalen (visuellen bzw. taktilen) und der verbalen Kommunikation eine Rolle spielen, ist jede Narbe als Zeichen gelebten Lebens auch ein Phänomen der Chronemik, d.h. der Semiotik der Zeit. Beide Ansätze – sowohl der ereignisorientierte, wie auch der semiotische - sind durch das Prinzip der Indexikalität verbunden, das laut Thomas Sebeok entweder prognostizierend (Wo Regenwolken, da später Regen) oder rückschließend (Wo Asche, da vorher Feuer) sein kann . Das Kontext-Phänomen "Narbe" beruht demnach im Fall des ereignisorientierten Modells auf einem prospektiven, prognostischen Index (Wund-Heilung und Narbenbildung als Normalverlauf einer Verwundung oder Krankheit), und im Fall des semiotischen Modells auf einem retrospektiven Index (Narbe verweist zurück auf eine Verletzung und Wunde und ist auf diese Weise als somatisches Zeichen kommunizierbar). Da die beiden Modelle sich gegenseitig komplettieren, treten sie im Maximalfall gleichzeitig bzw. konvergent in einem literarischen Text auf. Als andere Möglichkeit ist die Realisierung von jeweils einem der beiden Modelle – ganz oder partiell - gegeben.

Den vollständigen Text finden Sie hier: Arcadia

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Dagmar Burkhart

Concepts of the SKIN in Varlam Shalamov's "Kolyma Tales" and Imre Kertész' Novel "Fateless"

Translation: Angela Weckler

Gulag Studies vols. 2-3, 2009-2010, ed. Olga Cooke, Idyllwild 2010, pp.83-93.

Terror and prison camps have etched a deep mark in the collective memory of the twentieth century and speak of crimes committed against the bodies and souls of fellow-beings. The visible and invisible wounds inflicted on the victims closed, leaving scars behind. However, being "political scars," they continued to remind both bearer and interlocutor of suffering that resulted from political will. Collective remembrance needs the effort of individuals to remember, it needs oral accounts of history, texts, photos and special sites of memory – "lieux de mémoire," as the French historian Pierre Nora called his project. For people confined to camps, the elementary storage medium for physical and mental experience was the body, in particular the skin. It proved to be a mnemonic instrument, ensuring that communication had a material expression in the form of swellings, folds, wounds, scars, tattoos and other visible "imprints." When it comes down to the fight for physical survival in extreme conditions, when a person is largely reduced to his or her body, it is primarily the integumentum, i.e., the sum of the various layers of skin which relays experiences from nerve endings to brain, for storage in the cerebral cortex. To think of skin memory in the sense of a storage medium seems a suitable image. (...) The historical skin memory, which stores politically motivated abuses of man and his body, displays signature marks and scars in that complex model of the world. Two examples will serve to illustrate the forms this takes: First example: In the areas under Nazi rule, the characteristic features are scars resulting from maltreatment (for instance violent cutting of hair or beard) and concentration camp numbers tattooed into the microcosm of the integument (1st skin), which were preceded by three earlier phases: a racist stigmatization in the socio-political sphere (4th skin), assaults on Jewish houses and businesses (3rd skin) and – by forcing Jews to wear a yellow Star of David – attacks on clothing (2nd skin). Second example: During Stalin's reign of terror in the Soviet Union, the prevailing climate was one of stigmatization and denunciation of political enemies as "counter-revolutionaries" (4th skin); upon deportation to Siberian punishment camps the barracks (3rd skin) provided almost no protection from the cold and, suffering the deprivation caused by totally inadequate clothing (2nd skin), they were condemned to be reduced to their naked integument (1st skin) which was marked by frostbite or the wounds and scars of ill treatment. The skin memory of surviving witnesses Jean Améry (Hans Chaim Mayer), Ruth Klueger, Jorge Semprun, Primo Levi, Tadeusz Borowski, Imre Kertész, Aleksandr Solzhenitsyn, Evgeniia Ginzburg, Varlam Shalamov and others are among those surviving witnesses who have written about the persecution of the Jews and the de-humanizing experience of incarceration or life in a prison camp with its licensed savagery. They had intimate personal experience of what bodily harm means and by writing they discovered that what is painfully imprinted on the skin remains longest in the skin memory, as Friedrich Nietzsche put it in his essay On the Genealogy of Morals.

Varlam Shalamov (1907-82) spent almost eighteen years as a political prisoner in the Gulag, fourteen of these in the frozen wastes of Kolyma in northeastern Siberia, and his tales of life in the camps recount what his "own skin," his "own blood," his entire body remembers: "Avtor dolzhen issledovat' svoi material sobstvennoi shkuroi – ne tol'ko umom, ne tol'ko serdtsem, a kazhdoi poroi kozhi, kazhdym nervom svoim." Shalamov's figures, Andreev, Golubev, Krist and others experience the fragility of human existence dangerously close to the tipping point where thought processes revolve around the purely physiological. "After three weeks a man turned into a beast – racked by heavy labour, cold, hunger and beatings" (he writes in What I saw and realized in camp). The fourth skin, the veneer of civilization, proves every bit as vulnerable as the human skin is fragile. In Shalamov's tale "Na predstavku," (On Tick), a criminal prisoner orders the political prisoner Garkunov to hand over the woollen pullover he cherishes on the skin under his dirty undershirt, "the last package from his wife" before he was sent off to Siberia: "I won't take it off," said Garkunov hoarsely. "You'll have to take the skin with . . .". They rushed at him, knocking him down [. . .]. Sashka stretched out the dead man's arms, tore off his undershirt and pulled the pullover over his head.

The Hungarian Nobel Prize Laureate Imre Kertész (*1929) shows the process of de-humanization in his novel Sorstalanság (Fateless) by the words of the first-person narrator, a juvenile Jew named György Köves. Having been deported from Budapest to Auschwitz-Birkenau and Buchenwald as a fifteen-year-old (in 1944, like the author), he is forced to perform heavy manual labor without adequate food or suitable clothing and footwear. Initially, his second and first skins are at loggerheads: "During spells of fine gray drizzle, for instance, [. . .] the burlap outfit was transformed into a stiff stovepipe, the clammy touch of which one's skin strove to avoid in any way possible – quite in vain, naturally. A prison overcoat [. . .] was quite worthless here, just another handicap, yet another damp layer." (...)

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Dagmar Burkhart

Vladimir Sorokin's play "Capital" and the mythologizing of money

Translation: Angela Weckler

Sorokiniada. Eurasia Talks about Sorokin. Eds. Boris Lanin, Tetsuo Mochizuki, Sapporo 2010, pp.1-12

(...)

Since in post-Socialist Russia the process of earning money is, according to Sorokin, something quasi-magical, ritual acts are used in the play to express the cult of increasing capital: the central, absurd ritual, is that the bank's director deliberately has a fresh scar added to his face every year for important decisions on profit maximization – a purification of the conscience. The play shows the eighth such act of 'catharsis': Хирург наводит видеокамеру на лицо Попова, изображение появляется на большом мониторе компьютера. На лице Попова отчетливо видны семь старых шрамов. Шрамы одинаковые по длине, но различные по толщине и расположены в разных частях лица. Попов и присутствующие смотрят на лицо (339). The director's face is a kind of corporate fetish, and at the bank anniversary festival the employees debate the best place for the new scar:

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Volker Steinkraus

Haut und Architektur

Prof. Dr. med. Theodor Nasemann zum 80. Geburtstag gewidmet. Hamburg 2003 (Publikation des Dermatologikums, 22 Seiten)

Zwischen Architektur und Haut gibt es vielfältige und tiefgehende Beziehungen. Rein materiell betrachtet stellen beide eine Hülle dar, die im Falle der Architektur den Makroorganismus Mensch und im Falle der Haut die zellulären Strukturen unserer Organe umgibt. Die Beziehung, in der beide miteinander stehen, erschöpft sich jedoch nicht in der Gemeinsamkeit, Raum oder Materie ab- oder einzugrenzen. Das Gedankenspiel, "Architektur, die dritte Haut", führt uns in das Herz beider Bereiche. Es reflektiert die elementarste Bedeutung der Architektur unabhängig von den zahlreichen weiteren Bedeutungen, die sie im Laufe der Kulturgeschichte der Menschheit errungen hat. Diese elementarste aller Bedeutungen der Architektur ist es, den Menschen zu schützen. Um dies zu veranschaulichen, wird ein Organ zum Vergleich herangezogen, dessen elementarste Bedeutung identisch mit der der Architektur ist, nämlich den Menschen zu schützen. Obwohl dieser protektive Charakter auch anderen Organen zugesprochen werden kann, versinnbildlicht die Haut eine solche Schutzfunktion besonders treffend. Die erste Haut des Menschen ist unsere originäre Haut - das, womit wir unsere inneren Organe einhüllen. Die zweite Haut des Menschen wird durch die Textilien verkörpert, mit denen wir uns bekleiden, einkleiden oder auch verkleiden. Als dritte Haut kann im übertragenen Sinne die Architektur verstanden werden, die gebaute "Haut", von der wir umgeben sind. In diesem Gedankenspiel, wird die Haut primär als Hülle verstanden. Neben den physiologischen Bedeutungen für den Gesamtorganismus, deren wichtigste die Sicherung der Integrität ist, kommen der Haut als größtes und sichtbarstes Organ des Mensch jedoch nicht minder wichtige Aufgaben auf anderen Ebenen zu. Die Hülle als Medium für Kommunikation Die Hülle eines Bauwerkes übernimmt mehr und mehr Funktionen, die der eines lebenden Organismus ähneln. Sie entwickelt sich weg von der "schlichten Mauer" hin zu einer "adaptationsfähigen Membran", die im weitesten Sinne als "intelligent" bezeichnet werden kann. Neben diesen biophysikalischen Fähigkeiten kann die Hülle in der Architektur wie in der Biologie das Interieur spiegeln beziehungsweise Charakteristika des Kerns kommunizieren oder offen legen. Sie kann aber auch geheimnisvoll verschleiern, anonymisieren oder distanzieren. Sie kann leise oder laut sein, verwirren, befremden, belanglos, diffus oder zusammenhangslos wirken, Nutzfläche für Statusrepräsentationen oder Instrument für Selbstinszenierungen sein. Sie kann Spannungen aufbauen, Assoziationen herstellen und Engramme schaffen. Sie kann desintegrieren oder integrieren. In einem Interview über die Architektur ihres neuen Sportstadions in München sagten die Baseler Architekten Herzog & de Meuron kürzlich: "Die Hülle thematisiert den Kern", womit sie meinen, dass der Charakter des Gebäudes das Nutzungskonzept oder den Geist des Innenlebens schon in der Hülle zum Ausdruck bringen muss. Die Hülle wird somit zum Medium für Kommunikation. Der Gedanke von Architekten, dass die Hülle den Kern thematisiert, trifft auch das Wesen der Haut. Auch sie ist Medium für Kommunikation. Während die genetisch bedingte Individualität verantwortlich für Farbe, Textur und Relief, das heißt für den Phänotyp der Haut ist, muß die Haut auch als Expressionsorgan von Psyche, Emotio und Befindlichkeit betrachtet werden. Dabei kann ihr Ausdruck Indikator für den Zustand von Seele und inneren Organen sein. Auch sie kann Charakteristika, Besonderheiten oder Probleme des Kerns zum Ausdruck bringen, beziehungsweise thematisieren. So verdeutlicht beispielsweise das Nesselfieber der Haut (Quaddelsucht) einen Zustand, bei dem sie lediglich Reaktionsort nicht jedoch Ursprungsort der Erkrankung ist. Die Haut wird symptomatisch für den kranken Kern (Réaction cutané). Sie thematisiert diesen, der beispielsweise an einer Allergie oder an einer Infektion leidet. Bei der Diskussion des Gedankens, dass der Kern die Hülle thematisiert, drängt sich auch der Umkehrschluss auf, dass nicht nur die Hülle den Kern, sondern dass auch der Kern die Hülle thematisiert. Dies kann zutreffen, wenn die Haut primär von einer chronischen Erkrankung befallen ist, ein Vorgang, der vom Innersten des Menschen, vom Kern thematisiert werden kann. Die seelische Befindlichkeit, die Psyche, kann sekundär betroffen werden (Réaction centrale). Wer je den Leidensdruck im Augenlicht von Menschen verinnerlicht hat, deren sichtbare Haut durch eine schwere Krankheit gezeichnet ist, vermag die tiefe Bedeutung der komplexen Beziehungen zwischen Hülle und Kern beziehungsweise Kern und Hülle nachvollziehen.

Zum Weiterlesen steht der Text als PDF-Dokument zur Verfügung.

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